Wer neulich die Vereidigung des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten im Fernsehen mitverfolgt hat, wurde Zeuge einer wahrhaft berauschenden Veranstaltung. Nicht, weil der für solche Anlässe geradezu intime Rahmen ungewohnte Nähe gewährte, hochrangige politische Gestalten zu Menschen werden ließ. Nicht, weil mit Kamala Harris erstmals eine Frau zur Vizepräsidentin vereidigt wurde – als Leitbild für das amerikanische Versprechen, dass in diesem Land jeder alles erreichen kann. Auch nicht, weil Lady Gaga die Nationalhymne auf so merkwürdige Art schön gesungen hat.
Sondern weil es ein Genuss war, den Worten zuzuhören, die da gesagt wurden. Die den Schock spürbar werden ließen, den eine Begegnung mit dem Faschismus auslöst. Die die Verzweiflung deutlich machten, die ein Trommelfeuer von Lügen und Verunglimpfungen hervorruft. Und die nicht den Hauch eines Zweifels daran ließen, dass Dissens und Disput zum Wesen der Demokratie gehören, aber mit Respekt geführt werden sollen. Müssen. Ab sofort. Man muss nicht religiös sei, um Matthäus 5 Vers 37 angenehm prägnant zu finden: „Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel.“
Schreiben setzt Verstehen voraus – und Empathie für den Leser
Und so verwundert es im Nachhinein auch nicht, dass der Auftritt der 22-jährigen Poetin Amanda Gorman zum emotionalen Höhepunkt der Zeremonie wurde. Eine zierliche junge Frau ließ mit „The Hill we climb“ für einen Moment die Zeit stillstehen. Mit der Kraft ihrer Worte, ihrer Stimme, ihrer Körpersprache – ihrer unbedingten Wahrhaftigkeit. Auch wer des Englischen nicht mächtig ist, wird beim Zuhören erkennen, wie schön Sprache sein kann.
Was dem Bildhauer der Steinblock, ist dem Texter das leere Blatt Papier. Bildhauern ist vergleichsweise einfach: Alles Überflüssige muss weg. Schreiben setzt Verstehen voraus. Empathie für einen unsichtbaren Leser. Respekt vor den Möglichkeiten und Fallstricken.
Sicher, man hat sich daran gewöhnt, auch das schlimmste Kauderwelsch von Bedienungsanleitungen zu dechiffrieren. Werbung glaubt man ohnehin nicht und im Internet nur das, was man sowieso schon wusste. Wollen wir uns auch daran gewöhnen, dass Politiker in den Abendnachrichten mit ernster Miene Plattitüden von sich geben? Dass der Sinn hinter den Worten bestenfalls erahnt werden kann, gelegentlich aber auch gänzlich fehlt – Hauptsache halbwegs korrekt und irgendwie nett?
Zahlt sich gute Sprache aus?
Bisweilen sind Kunden erstaunt, dass es Geld kostet, aus Fakten, Meinungen und Gedanken Texte werden zu lassen. Wir verstehen das. Weil man dem fertigen Produkt niemals Mühe anmerken darf – weder dem Redemanuskript noch dem Broschürenkapitel, nicht der „Über uns“-Passage der Homepage und schon gar nicht dem Tweet. Sie müssen sich vielmehr lesen, als hätten sie gar nicht anders sein können, diese Sprachprodukte. Einfach und klar – auch auf die Gefahr hin, dass der Leser anderer Meinung ist. Logisch und doch irgendwie locker – weil Sprache nicht nur korrekt, sondern auch schön sein kann.
Zahlt sich gute Sprache aus? Andersherum gefragt fällt die Antwort leichter. Wie viel Nachlässigkeit darf’s denn sein? Wenn ich jemanden erreichen, ihr oder ihm etwas nahebringen, sie oder ihn womöglich sogar überzeugen möchte: Wie viel Luschigkeit möchte ich mir leisten? Und was sagt das über meinen Respekt für den Leser aus?
Die Vereidigung des 46. Präsidenten der Vereinigten Statten und seiner Vizepräsidentin war mehr als nur eine Routinezeremonie. Sie war, aus gegebenem Anlass, der Rahmen für ein Bekenntnis. Zu Werten wie Respekt, Anstand und Toleranz. Und zu einer klaren, wahrhaftigen Sprache.
Wie schön.
Amanda Gormans Darbietung als Video finden Sie hier.
Das Manuskript mit zwei Übersetzungen gibt es bei der FAZ.