
Was soziale Netzwerke, politische Lager und alte Philosophie miteinander zu tun haben
(Meinung) Die gesellschaftlichen Risse werden tiefer. In Deutschland, in ganz Europa, in den USA. Politische Lager stehen sich feindselig gegenüber. Interessengruppen ringen um Deutungshoheit. Soziale Netzwerke belohnen Zuspitzung statt Wahrheit. Lüge und Täuschung verbreiten sich schneller als Einordnung. Viele Menschen fühlen sich überfordert, orientierungslos, dauerhaft unter Druck.
In dieser Gemengelage wirkt ein Gedanke aus der Antike überraschend nüchtern. Der altgriechische Philosoph Platon, ein Schüler Sokrates, fordert in seinem Werk „Der Staat“, dass ein Gemeinwesen nur dann gerecht bleibt, wenn jede und jeder das Seine tut (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν) und Verantwortung dort übernimmt, wo Fähigkeit und Maß vorhanden sind.
Ordnung statt Gleichmacherei
Vorab eingeordnet: Platons Verständnis von Ordnung entspricht nicht dem modernen demokratischen Staatsbild. Es ist eine historische Position, keine zeitgenössische Norm.
Platon hat diesen Satz, dass jeder das Seinige tun soll, elitär gemeint. In seinem Werk „Politeia“ (Der Staat) ist der Platz des Einzelnen klar bestimmt. Nicht alle sollen führen oder entscheiden. Nur jene, die als besonders urteilsfähig gelten. Gleichheit ist für Platon kein Ziel. Ordnung ist es.
Ein Staat funktioniere nach seiner Auffassung dann, wenn diejenigen entscheiden, die urteilsfähig sind. Wenn andere wiederum den Staat als Militär oder Polizei schützen, weil sie dafür ausgebildet wurden. Und wenn wieder andere für wirtschaftliche Stabilität sorgen.
Unordnung entsteht dort, wo Rollen verschwimmen. Wo Meinung Wissen ersetzt. Wo Aufmerksamkeit wichtiger wird als Verantwortung. Ein Gedanke, der in Zeiten von Dauererregung und Empörungsökonomie unangenehm aktuell und präzise wirkt.
Die Seele als Spiegel der Gesellschaft
Platon überträgt dieses Prinzip auf den Menschen selbst. Die Seele besteht für ihn aus drei Kräften: Vernunft, Mut und Begierden. Ein gerechter Mensch ist einer, bei dem die Vernunft führt, der Wille stützt und die Affekte begrenzt bleiben.
Gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken, entsteht Chaos. Im Individuum wie im Staat. Politik wird emotionalisiert. Debatten verhärten sich. Dass Medien-Logiken Zuspitzung statt Einordnung belohnen, hätte Platon schlaflos gemacht. Er hätte darin keinen Fortschritt erkannt, sondern einen Verlust innerer Führung.
Der braune Sumpf als Symptom
12 Jahre hat das „Tausendjährige Reich“ gedauert. 80 Jahre hat ein „braune Sumpf“ aus dieser Zeit überlebt. Der heutige „braune Sumpf“ aus Rassismus, autoritären Fantasien und Verschwörungsideologien lässt sich platonisch als Störung der Ordnung verstehen.
Doch extremistische und autoritäre Bewegungen entstehen nicht aus dem Nichts. Aus platonischer Sicht sind sie das Resultat von Angst, Kränkung und Vereinfachung. Demokratie kippt nicht durch zu wenig Freiheit, sondern durch Freiheit ohne Verantwortung.
Wenn in unserer Gesellschaft alles gleich gültig erscheint und alles zugleich empört, geht meiner Meinung nach Orientierung verloren. Dieses Vakuum füllen einfache Antworten und autoritäre Versprechen. Der sogenannte braune Sumpf ist nicht nur ein historischer Rückfall. Er ist aus meiner Sicht ein modernes Symptom intellektueller und emotionaler Überforderung.
Ein elitärer Satz, neu gelesen
Wie könnte man Platons Satz „Jeder soll im Staat das Seinige tun“ neu verstehen?
Der Gedanke ließe sich in die Gegenwart übersetzen, ohne seine autoritäre Schwere übernehmen zu müssen. Heute bedeutet „das Seine tun“ nicht Unterordnung, sondern Verantwortung am eigenen Platz. Nicht jede und jeder muss alles kommentieren, alles empören oder alles entscheiden.
Doch jede einzelne positive Tätigkeit und jedes persönliche Engagement entfalten Wirkung im Gemeinwesen.
Eine Pflegekraft handelt politisch, wenn sie ihren Beruf ernst nimmt. Ein Lehrer stärkt Demokratie, wenn er differenziertes Denken fördert. Eine Unternehmerin wirkt gesellschaftlich, wenn sie fair wirtschaftet. Journalistinnen und Journalisten nützen oder schaden dem Gemeinwesen mit jeder Zeile. Auch publizistische Zurückhaltung könnte ein Beitrag sein. Genauso wie ehrenamtliches Engagement, das von vielen in unserer Gesellschaft mit viel Freude praktiziert wird.
Warum dieser Gedanke heute unbequem ist
Neu gelesen wird Platons elitärer Satz zu einer Herausforderung für eine gesündere Demokratie. Nicht Macht entscheidet über Relevanz, sondern Haltung. Nicht Lautstärke, sondern Verlässlichkeit. In einer überforderten, polarisierten Gesellschaft beginnt das Gute nicht im großen Entwurf, sondern dort, wo Menschen an ihrer Stelle Maß halten, Verantwortung übernehmen und sich nicht größer machen, als sie sind.
Freiheit ohne innere Ordnung führt nicht zu Vielfalt. Sie führt zur Zersetzung. Platons Gedanke ist aus heutige Sicht meines Erachtens kein autoritäres Programm mehr. Er ist eine nüchterne Erinnerung daran, dass Gemeinwesen nur dann bestehen, wenn Verantwortung nicht delegiert, sondern gelebt wird. Und zwar von jeder einzelnen Person.
Warum ich Platon zitiere und wer Platon ist
Platon wird hier nicht zitiert, weil er Antworten für die Gegenwart geliefert hätte. Er wird zitiert, weil er radikal über Ordnung, Verantwortung und den idealen Staat nachgedacht hat. Und zwar in einer Zeit, in der die demokratische Ordnung Athens unter Druck stand, scheiterte und zeitweise zusammenbrach. Sein Werk Politeia ist weniger ein Bauplan als eine Reaktion auf politische Erfahrung, Enttäuschung und Instabilität.
Platon lebte von etwa 427 bis 347 vor Christus. Er war Schüler des Sokrates, dessen Denken ihn nachhaltig prägte, und Lehrer des Aristoteles. Als Philosoph, Schriftsteller und Akademiegründer gehört er zu den einflussreichsten Denkern der europäischen Geistesgeschichte. Seine Dialoge verbinden politische Analyse, Ethik und Psychologie zu einem umfassenden Blick auf Mensch und Gemeinwesen.
Was ich tue
An meiner Stelle tätig zu sein und mich einzubringen, ist kein großes Programm, sondern eine Haltung. Mit den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Natürlich habe ich als Medienunternehmer und Journalist im Rahmen meiner Möglichkeiten die Chance, mich publizistisch einzubringen. Dieser Blogbeitrag ist ein kleiner Teil davon.
Ebenso gehören Gespräche im persönlichen Umfeld dazu, in denen Freundinnen und Freunde, Bekannte und Kolleginnen und Kollegen ermutigt werden, an ihrer Stelle etwas beizutragen. Manchmal wirkt es. Manchmal nicht.
Diese Form des Einbringens begleitet mich seit vielen Jahren. Und sie endet nicht. Hinzu kommt ehrenamtliches Engagement, etwa als Kulturpate bei den Kölner Kulturpaten. Alles sind nur kleine Bausteine. Kein großer Entwurf. Keine Garantie auf Erfolg.
Doch genau darin liegt der Gedanke. Wenn viele – noch mehr als bisher – an ihrer jeweiligen Stelle Verantwortung und soziales Engagement übernehmen würden, entstünde Schritt für Schritt etwas, das einer gerechteren Gesellschaft zumindest näherkommt.
Zur Einordnung
Platon: Politeia (Der Staat), entstanden um 380 vor Christus.
Zentrale Textstelle zur Gerechtigkeit: Buch IV, 433a–434c.
Hinweis: Ich bin kein Altphilologe. Der Text nähert sich Platons „Staat“ aus politikwissenschaftlicher Perspektive.